Interview: Blind für eine Weile, oder Wie ÖZIV Sicht auf Barrieren erweitert

In der Projektarbeit werden wir von Menschen mit Behinderung als Experten in ihrer Sache kontinuierlich begleitet. Im Oktober 2019 begab sich unser internationales Projektteam auf die Barrierensuche in den Nationalpark Donau-Auen in der Nähe von Wien, Österreich. Für zwei Stunden durften alle Beteiligten einen Lehrpfad im Rollstuhl oder mit Hilfe eines Blindenstocks erkunden. Unter Anleitung von dem österreichischen Bundesverband ÖZIV (Österreichweite zukunftsorientierte Interessenvertretung) haben wir überprüft, wo sich Barrieren auf dem Naturpfad der Schlossinsel in Orth versteckt haben. Der Lehrpfad soll demnächst barrierefrei umgestaltet werden.

Über die Arbeit des ÖZIV, die Herausforderungen der heutigen Zeit und eine neue Sicht auf Barrieren sprechen wir mit Isabella Aigner und Peter Noflatscher, Mitarbeitenden von ÖZIV ACCESS.

Seit 1962 ist ÖZIV in Österreich aktiv. Gerade in den letzten Jahrzehnten erleben wir einen starken Gesellschaftswandel. Wie haben sich Ihre Arbeitsfelder verändert?

In der Tat hat sich die Situation seit den 60er Jahren erheblich verbessert. Heute haben wir Gesetze, die eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen unterbinden sollen. In der Praxis sieht es allerdings nach wie vor anders aus – deshalb ist eine starke Interessenvertretung (auch in Kooperation mit anderen Organisationen) auch heute immer noch sehr wichtig, um dem Ideal einer Inklusiven Gesellschaft möglichst nahe zu kommen. Unser Fokus liegt dabei auf den Themen Barrierefreiheit und Inklusiver Arbeitsmarkt sowie der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, die Österreich zwar im Jahr 2008 ratifiziert hat, wo es aber in vielen Bereichen noch an der Umsetzung mangelt!

Der ÖZIV hat dazu Angebote entwickelt, die einerseits Unternehmen und Organisationen in den Bereichen Barrierefreiheit und Sensibilisierung unterstützt (ÖZIV ACCESS), und andererseits sich an Menschen direkt wendet, um sie für den Arbeitsmarkt fit zu machen bzw. bei der Jobsicherung und -erlangung zu unterstützen (ÖZIV SUPPORT Coaching und ÖZIV ARBEITSASSISTENZ Niederösterreich).

Gemeinsam mit unseren Kooperationspartnern wollen wir Gleichberechtigung für Menschen mit Behinderungen erreichen – dafür kämpfen wir jeden Tag!

Gemeinsam mit der Wirtschaftskammer Österreich hat der ÖZIV einen Barrierefreiheit-Selbst-Check für Unternehmen aus verschiedenen Branchen entwickelt. Wie ist aktuell die Dynamik der Umstellung auf mehr Barrierefreiheit in Österreich?

Der Barriere-Check ging 2015 on-line, um Unternehmen unterschwellig zum Thema Barrierefreiheit zu sensibilisieren und auf die auslaufenden Übergangsfristen im Behindertengleichstellungsgesetz zu informieren.

Seitdem hat sich der Barriere-Check zum Standardtool für die Selbstevaluierung für Unternehmen entwickelt. Natürlich waren die Zugriffszahlen gerade am Beginn überwältigend und haben sowohl uns als auch die Wirtschaftskammer mehr als überrascht.

Die seit mehreren Jahren stabilen Zugriffszahlen beweisen, dass sich Unternehmen nach wie vor mit dem Thema der Barrierefreiheit beschäftigen, dies bemerken wir auch an den Beratungsanfragen, die über den Barriere-Check zu uns kommen.

Die Dynamik hinsichtlich der Herstellung ist trotzdem sehr bescheiden. Zum einen machen die Baugesetzgebungen der Länder eher einen Rückschritt hinsichtlich Barrierefreiheit andererseits haben immer noch viele Planer*innen und Bauherr*innen nicht die Notwendigkeit von Barrierefreiheit erkannt. Oft werden wir auch zu spät bei Planungsvorhaben hinzugezogen und können daher auch nicht mehr optimale Lösungen erzielen.

Und wie schätzen Sie die aktuelle Lage im Bereich barrierefreies Naturerleben ein? Gibt es konkrete Maßnahmen oder Angebote, die ÖZIV zu diesem Thema umsetzt?

Im Zusammenhang mit Natur und Behinderung gibt es von unserer Seite aus noch viel zu tun. Dennoch durften wir zum Beispiel das Projekt „Naturerleben für Alle“ in Kärnten beratend und in Sensibilisierungstrainings begleiten. Dabei ging es vorerst darum, die geplanten Wege gemeinsam mit den dafür zuständigen Personen zu besichtigen und über barrierefreie Umgestaltung zu sprechen. In einem weiteren Schritt boten wir in diesem Zusammenhang Sensibilisierungstrainings an, bei denen die TeilnehmerInnen durch Simulationsmaterial zum Beispiel Brillen, Langstöcke oder Rollstühle praktisches nachempfinden ermöglicht wurde. Diese geschah zum Beispiel durch das erkunden von Wegen und ertasten von Materialien oder Wahrnehmen eines Gegenstandes mit einer unserer Simulationsbrillen. Wie Sie unserer Beschreibung entnehmen können, ging es auch bei diesem Projekt um das Schulen von MitarbeiterInnen und um die Unterstützung und praktische Umsetzung bei Weggestaltungen. Wir freuten uns sehr, dass wir auch ihr Projekt mit dem Titel „Natur ohne Barrieren“ durch unsere Sensibilisierungstrainings begleiten durften. Wir hoffen, dass wir weiterhin die Möglichkeit haben derartige Projekte zu unterstützen beziehungsweise zu begleiten.

Wie werten Sie den Beitrag unseres Projekts „Nature without Barriers“ für Ihre Arbeit konkret und für den Bereich barrierefreies Naturerlebnis allgemein?

Das Projekt trägt einen wesentlichen Beitrag dazu bei, um zu erkennen, wie vielfältig Barrierefreiheit ist, und was dies in der Natur bedeuten kann. Außerdem ist es ein wesentlicher Beitrag um Menschen mit Behinderung und deren Wünsche sichtbarer werden zu lassen und gleichzeitig wahrzunehmen, dass diese das gleiche Bedürfnis wie Menschen ohne Behinderung haben.

Die Angebote von ÖZIV sind sehr vielseitig. Neben Schulungen und Unterstützung für Menschen mit Behinderungen bieten Sie auch Sensibilisierungstrainings für alle. Diese sollen verhelfen, Barrieren im Kopf abzubauen. Können Sie uns hier ein paar Beispiele nennen? Wie schätzen Sie die Wirkung ein?

Laut den Rückmeldungen der Teilnehmer*innen haben unsere Sensibilisierungstrainings eine vielseitig positive Wirkung. Diese ermöglichen zum Beispiel einen Perspektivenwechsel, das Erleben von beeindruckenden Erzählungen von Expert*innen. Außerdem bekommen die Teilnehmenden theoretische Inputs zu Barrierefreiheit, Inklusion und Behinderung durch unsere langjährigen Mitarbeitenden und deren Expertise sowie Einblicke in das Leben mit Behinderung und direkte Austauschmöglichkeit mit Expert*innen. Weiters geben die Trainings die Möglichkeit in der Umgebung des eigenen Arbeitsplatzes Barrieren zu erkennen und diese durch praktische Übungen nachzuempfinden

Liebe Isabella, lieber Peter, vielen Dank für das Interview und die spannenden Einblicke in Ihre Arbeit!

Dieses Bild zeigt Mitglieder des Projektteams beim Ausprobieren, wie sich das Naturerleben im Rollstuhl bzw. mit einem Blindenstock anfühlt. Die Begleiterin im Rollstuhl führt die Gruppe.
© Umweltdachverband

Auch wir als Projektteam durften an so einem Sensibilisierungstraining teilnehmen und haben unsere Kolleginnen und Kollegen nach ihren Erfahrungen befragt. Das eine steht fest: so etwas verändert den Blick auf Barrieren:

Ewa, Etna (Polen): Nach einem Umfall musste ich über einige Monate im Rollstuhl bleiben, ich habe mich sofort an die Erlebnisse dieser Tage erinnert. Es ist wahnsinnig kräfteziehend, immer auf die Hilfe der anderen angewiesen zu sein. Desto ermutigender sind die Sachen, die man selbst bewältgen kann.

Michael, UWD (Österreich): Ich bin zwar seit vielen Jahren stark kurzsichtig, aber blind zu sein war noch einmal eine ganz andere Erfahrung. Es ist nicht einfach plötzlich auf andere angewiesen zu sein, aber es hat mir auch gezeigt auf welche vielfältige Art und Weise man die Natur wahrnehmen kann.

Katja, GNF (Deutschland): beides – sowohl blind als auch im Rollstuhl zu sein – war für mich neu. Das Ausprobieren war mit einem bestimmten Grad an Überwindung eigener versteckten Ängste verbunden, war aber eine einmalige Erfahrung. Ich hätte nie gedacht, dass eine 2 cm hohe Kante auf dem Brückenübergang den Rollstuhl stecken bleiben lässt.

Istvan, LBDCA (Ungarn): Ich war schon immer ein begeisterter Sportler. Ich fürchtete mich oft, eines Tages im Rollstuhl zu sitzen. Jetzt habe ich diese Erfahrung gemacht und erkannt, dass diese Erfahrung viel vielfältiger ist, als ich es mir vorgestellt hatte.

 

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